Freitag, 18. Januar 2013

Oh Boy (2012, Dir: Jan Ole Gerster)


Jan-Ole, you are the Man! Endlich mal ein dffb-Absolvent, der nicht der Berliner Schule verfallen ist, sondern losgelöst davon einen herrlich befreiten, authentischen, rohen, melancholischen, unaufgeregten, lakonischen, stellenweise äußerst witzigen und einfach wunderschönen deutschen Film gedreht hat. Genau nach meinem Geschmack. 
Der schönste Berlin-Film seit Wenders' Filmpoesie "Der Himmel über Berlin" und für mich persönlich der beste deutsche Film seit... Dekaden. Und der Soundtrack ist Oberspitzenklasse.

Text: Le Samourai
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"Oh Boy" erfindet das Rad nicht neu: Lakonische Schwarz-Weiß-Bilder, Jazz, die Atmosphäre rauchiger Bars und ein ziellos umherstreunender, von der Umwelt gebeutelter Loner. Natürlich kommt einem die Nouvelle Vague in den Sinn und natürlich wird mancher das zum Anlass nehmen, den Film als uninspiriertes Plagiat abzukanzeln. Aber das wäre genauso unsinnig wie falsch. Auch Truffaut, Godard und Co haben dieses ganz bestimmte Lebensgefühl nicht erfunden. Sie haben es erkannt, gespürt, gelebt und auf einzigartige Weise verarbeitet. 
Das tut auch Jan Ole Gerster, und auch wenn er an die großen Vorbilder nicht heranreicht, nicht heranreichen kann, macht er seine Sache verdammt gut. Gott sei Dank ist "Oh Boy" von so schlichter Schönheit! Gott sei Dank versucht er nicht, allzu verkrampft ein neues deutsches Arthouse-Kino zu etablieren, wie es im Rahmen der - ich zitiere aus dem Film - "Berliner Sonderschule" so oft scheitert. Der Film besinnt sich auf seine Stärken, ist authentisch, witzig und lässt uns offen genug am Innenleben seiner Figuren teilhaben. Dann funktionieren eben auch vereinzelte Momente à la "Protagonist sitzt nachdenklich mit Kippe am Fenster": Als stimmungsvolle Zutat einer lebensnahen Geschichte, nicht als 90-minütiger Stillstand, der keinen Menschen wirklich erreicht und nur durch seine verkopfte Auseinandersetzung zum Pseudo-Arthouse mutiert. 
"Oh Boy" besticht durch eine tolle Kamera, die Berlin-spezifische Bilder einfängt, die gleichzeitig nicht zu abgedroschen sind und auch aus fast jeder anderen Großstadt stammen könnten. Die Leistungen der Darsteller sind großenteils richtig stark, allen voran natürlich Tom Schilling. Da verzeiht man auch die Tatsache, dass so manche Nebenfigur nicht die ganz große Tiefe besitzt - sie sind Personen in Nikos Leben, die er streift, zu denen er mal mehr und mal weniger intensive Beziehungen pflegt, die er wieder verlässt und weiterzieht. Ohne Berlin-Klischees kann der Film natürlich nicht auskommen. Aber sind sündhaft teurer Bio-Kaffee, pöbelnde Atzen, deutsche Nazifilm-Produktionen zum Fremdschämen und Kunst-Performances auf den Bühnen abbruchreifer Häuser wirklich Klischees? Wenn, dann zumindest nicht im negativen Sinn. Sie sind nunmal Berlin, und zwar jeden Tag aufs Neue. 
"Oh Boy" ist einfach ein stimmiger Film, der treffend einen Zeitgeist einfängt, welcher sich eben nicht nur mit dem Schlagwort "Berlin 2012" definieren lässt. Das Lebensgefühl, das er vermittelt, ist zeitlos und universell, im Leben wie im Kino. Dazu bedarf es keines konkreten Ziels des Helden, keiner Happy Ends und keiner Karthasis. Es bedarf "nur" der präzisen Beobachtung des Lebens vieler unterschiedlicher Menschen in künstlerisch ansprechender Form. Das ist ja dann auch Arthouse. Einfaches, gutes Arthouse.

Text: Gordon Cole