Donnerstag, 12. Januar 2012

Angst essen Seele auf (1974, Dir: Rainer Werner Fassbinder)


Rainer Werner Fassbinders "Angst essen Seele auf" erzählt die ungewöhnliche Liebesgeschichte der älteren Dame Emmi (Brigitte Mira) und dem deutlich jüngeren Marokkaner Ali (El Hedi ben Salem). 
Inspiriert von Douglas Sirks "All That Heaven Allows" verlegt Fassbinder die Geschichte ins Deutschland der 1970er Jahre, in dem es Unterschiede in Alter und besonders Nationalität der Liebenden sind, die bei der Umwelt auf Intoleranz und Zynismus stoßen. 
Nach dem großen Vorbild von Sirks Melodramen kommt der Bildsprache auch bei "Angst essen Seele auf" eine entscheidende Bedeutung zu. Ist die Mise-en-Scène bei Sirk jedoch bis ins Detail komponierter Ausdruck überbordender Leidenschaften, bestechen die Bilder von Kameramann Jürgen Jürges durch Reduktion. Die asketische Kamera bleibt dezent im Hintergrund und lenkt den Fokus somit stets auf die Geschichte dieses ungleichen Paares, das seine Liebe inmitten der Engstirnigkeit seiner Mitmenschen zu bewahren versucht. 
Fassbinder beobachtet das zwischen(un)menschliche Verhalten der Spießer treffend und überzogen, fast schon satirisch. Daraus entsteht eine teils absurd wirkende Präzision der Dialoge. Alis Aussprache, aus der auch der zentrale Satz und Titel des Films hervorgeht, wirkt aus heutiger Sicht wie die sprachhistorische Parodie von gebrochenem Ausländerdeutsch. All das ist natürlich mehr als komischer Selbstzweck, erwächst aus dieser Sprachgestaltung doch eine figurenbezogene Einfachheit: im Falle der Mitmenschen einfach dumm; im Falle Alis einfach ehrlich. 
Was den Film herausragend macht, ist, dass er nicht nur als böse und entlarvende Gesellschaftssatire funktioniert, sondern als Liebesdrama ebenso bewegt. In ihrer Aufrichtigkeit zueinander und ihrer rührenden Allianz gegen den Rest der Welt fungieren Emmi und Ali als strahlendes Exemplar für den Glauben an die Liebe und den Mut, sich über Konventionen hinweg zu setzen. 
So ergeben kleine Gesten in zurückhaltenden Bildkompositionen am Ende einen großen Film. Mit seinem ungewöhnlichen Inszenierungsstil, seiner ästhetischen Schlichtheit und emotionalen Direktheit gehört "Angst essen Seele auf" zum Stärksten, was das Deutsche Kino in den 70er Jahren und bis heute hervorgebracht hat.

Text: Gordon Cole


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ANGST ESSEN SEELE AUF - der wohl tollste Titel der deutschen Filmgeschichte. Der tollste Film allerdings bei Weitem nicht. 
Fassbinders Absichten sind sicherlich nachvollziehbar und respektabel; die stimmige, trostlose Inszenierung mag sogar über weiteste Strecken zu überzeugen und rettet den Film vor der Bedeutungslosigkeit, täuscht aber nicht über sein größtes Problem hinweg: das Drehbuch. Zum Abwinken klischeebeladen, weltfremd und schlicht hölzern. Jeder einzelne Charakter ist übertrieben, zu eindeutig, nicht ambivalent genug. Der Großteil der Dialoge ist unfassbar hölzern und von einem relativ talentfreien Ensemble (mit Ausnahme von Brigitte Mira) unüberzeugend vorgetragen, sodass ich leider des Öfteren das Gefühl hatte, in einem Laientheater einer deutschen Kleinstadt zu sitzen. Höhepunkt dessen ist die Zusammenkunft im Wohnzimmer mit den beiden Söhnen und der Tochter ("Jetzt musst du vergessen, dass du Kinder hast! ich will mit einer Hure nichts mehr zu tun haben!"). Total daneben. 
Das Prädikat "sehenswert" hat der Film alleine der stilsicheren Inszenierung Fassbinders zu verdanken, dessen beobachtende, ruhige Kamera mir sicherlich am stärksten in Erinnerung bleiben wird. 

Text: Le Samourai